Rhinozeritis oder Coronoia2
Komisch, dass noch niemand Parallelen gezogen hat zwischen dem bekannten Theaterstück „Rhinocéros: Die Nashörner“ von Ionesco, einer Parabel über den Konformismus, und der Corona-Situation, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Eine Recherche über Corona und Nashörner ergab lediglich, dass durch Corona die Dezimierung der Nashörner durch Wilderer zugenommen habe.
Eugène Ionesco (1909-1994) gilt als einer der Begründer des absurden Theaters. International bekannt wurde der französische Autor rumänischer Herkunft durch Rhinocérus, die Nashörner, das 1959 in Düsseldorf uraufgeführt wurde. In diesem grotesk verfremdeten Drama über Faschismus und Opportunismus bleibt nur der Protagonist, Bérenger, ein Mensch, während alle anderen sich der neuen Bewegung der Rhinozeritis anschließen und sich in Nashörner verwandeln.
Szene aus dem III. Akt „Die Nashörner“, Bérenger, der Protagonist, im Gespräch mit Daisy, der Sekretärin eines kleinen Verlags, in dem Bérenger arbeitet. Sie ist eine einfache, hübsche junge Frau, die in Bérenger verliebt ist. Sie versuchen, sich gegen die Außenwelt der marodierenden Nashörner abzuschotten, jedoch verlässt Daisy ihn am Ende, weil sie die rohe Kraft der Nashörner der Schwäche menschlicher Liebe vorzieht.:
BÉRENGER
„Sie sind verrückt geworden, die Welt ist krank, sie sind alle krank.“
DAISY
„Wir werden sie nicht heilen.“
BÉRENGER
„Wie im selben Haus bei ihnen wohnen?“
DAISY
„Man muss vernünftig sein. Man muss einen Modus Vivendi finden, man muss versuchen, sich mit ihnen zu verständigen.“
BÉRENGER
„Sie können uns nicht verstehen.“
DAISY
„Man muss es trotzdem versuchen. Es gibt keine andere Lösung.“
BÉRENGER
„Verstehst du sie denn?“
DAISY
„Noch nicht. Man muss versuchen, ihre Psychologie zu verstehen, ihre Sprache zu lernen.“
BÉRENGER
„Sie haben doch keine Sprache! Hör mal, nennst Du das eine Sprache“
Im letzten Satz, bevor der Vorhang fällt, sagt Bérenger:
„Ich werde mich gegen die ganze Welt wehren. Ich bin der letzte Mensch, ich bleibe es bis zum Schluss. Ich gebe nicht auf“.
Die Nashörner sind Symbole für die Mitläufer einer totalitären Gesellschaft, die sich zunächst fast unmerklich, im Zuge der wachsenden Bewegung jedoch freiwillig der Rhinozeritis anschließen. Alle lassen geschehen und machen am Ende mit, jeder versteckt sich am Ende hinter der wachsenden Mehrheit, nur der Protagonist, Bérenger, nimmt die Verantwortung für seine Mitmenschen und sein Tun auf sich, er kapituliert nicht. Nur Eigenverantwortung kann nach Ionesco ein totalitäres Regime verhindern.
Ich habe das Stück am 30.4.1978 im Théâtre d`Orsay, der Bühne Jean-Louis Barraults in der seinerzeit leerstehenden Gare d´Orsay, der heutigen Dépendance des Louvre, gesehen. Er selbst verkörperte überzeugend Bérenger, und ich hatte nach dem Stück Gelegenheit, mit ihm und seiner Frau Madeleine über die Implikationen des Stückes zu diskutieren. Dass die Thematik noch einmal so aktuell werden würde, konnte ich damals nicht ahnen.
© Stephan Heinrich Nolte, 2020