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EuroNephroDisney

Euro-Nephro-Disney: Ein Kongressbericht

Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 41,14. Oktober 1994 (33) A-2737

 

Vielfach kritisiert und totgesagt, wuchert es fröhlich weiter: das Kongress-Unwesen. Eine von vielen Gelegenheiten: die Jahrestagung der European Dialysis and Transplant Association - European Renal Association, XXIXth Annual Congress, Paris, France, 28. Juni-1. Juli 1992.

 

Die Fräulein im Kongressbüro drücken mir die obligatorische Kongresstasche in die Hand: Eine Bescheinigung für eine zehnprozentige Ermäßigung in den Galeries Lafayette, Stadtpläne, Gutscheine für Empfänge, Konzerte, Prospekte, Kugelschreiber, Schreibpapier, Programme und das Abstract-Heft. Merkwürdig, dass Kongress-Veranstalter immer noch das Gefühl haben, Kongressisten besäßen keine eigene Tasche: auf jedem Kongress erhält man eine, in unserem ökologischen Zeitalter gelegentlich aus Baumwolle oder Leinen statt aus Plastik. Doch wer braucht sie alle? Praktisch ist lediglich, dass man Kongressteilnehmer damit überall als solche erkennt...

 

Was gibt es denn da? Bei einer bekannten schwedischen Dialysefirma drängt sich alles: es gibt nämlich Champagner in Plastikflöten. Eine namhafte deutsche Firma ist der zweite beherrschende Aussteller, ebenfalls mit einem riesigen Stand mit eigenem Teppichboden, damit man sich ganz wie zuhause fühlen kann. Sie sorgt auch für den Kaffee, per Coupon in limitierter Auflage. Dafür kann man unter Anleitung ausprobieren, wie sich die neuen CAPD-Beutelverschlüsse knacken lassen: einmal gebrochen und – hopp, auf den Müll! Dann stehen da die klinikweißen Prototypen der neuesten Dialysemaschinen; endlich die eierlegende Wollmilchsau! Nur funktioniert bei der Demonstration die Hälfte nicht – es sind ja auch erst Prototypen! Das per Gutschein in der Kongressmappe versprochene Geschenk fällt eher dürftig aus: einmal Handcreme und Prospekte in einem lieblosen, aber garantiert grundwasserneutralen Plastikbeutel. Neben den Dialysetechnikfirmen ist die pharmazeutische Industrie der Kongressriese: Eine deutsche Firma wirbt mit einem gigantischen Stand, auf dem kostenlos französische Wörterbücher verteilt werden. Auch dort kann man Kaffee trinken und nahezu alle wichtigen europäischen Zeitungen lesen. In großer Zahl schwirren Firmenrepräsentanten umher und versorgen die Großen der Szene mit Einladungen zu Abendessen, Konzerten, Theater... Die große Schmierage! Im Prinzip geht es an allen Ständen gleich zu: Es wird konsumiert, Müll produziert, man begegnet sich, man staubt ab, was man kann. Im Namen von Gesundheit und Medizin! Was sich der Laie wohl denken mag? Auch eine Form der Prostitution, was die angestellten Frauen und Männer der pharmazeutischen Industrie dort betreiben müssen: für Geld geben sie sich hin. Geht es uns Ärzten anders?

 

Jetzt habe ich noch gar nichts über den wissenschaftlichen Teil des Kongresses gesagt – das ist nicht so wichtig, denn der spielt keine wesentliche Rolle mehr. Dazu ist alles zu perfekt. Man kann die Dinge ja nachlesen, entweder sind sie schon oder sie werden noch publiziert, zudem kann man Videos sämtlicher Vorträge kaufen. Im Übrigen stehen alle Vorträge im Abstract-Heft. Wegen der bis zu fünf Parallelveranstaltungen kann man ohnehin nicht überall sein, da reicht es auch, nirgendwo hinzugehen. Was mögen sich Außenstehende denken über die Scheinwelt, die mit den Niederungen der ärztlichen Tätigkeit so wenig zu tun haben will? Was soll das alles? Es kostet viel, viel Geld – aber es wird sich schon rechnen für die Industrie. Es schafft ein Gemeinschaftsgefühl, welches das schlechte Gewissen des einzelnen Vielleicht-noch-Arztes entlastet und ihn gleichzeitig zum Mithalten zwingt — er kann doch nicht lassen, was alle anderen machen!

 

Euro-Nephro-Disney – warum?

Mit dem Euro-Disneyland verbinden viele die totale Überflüssigkeit, die reine Profitgier, die ökologische Katastrophe auf Staatskosten und den Verderb der Kultur. Aber gibt es einen wesentlichen Unterschied zu vielen heutigen Kongressen? Auch sie sind überflüssig, werden von der Industrie aus Profitgier gesponsert, sind – dazu noch im Namen der Gesundheit – eine ökologische Katastrophe und haben mit Aus- und Weiterbildung nicht viel zu tun. Warum fahre ich dennoch dahin? Dabeisein ist alles, man will sehen und gesehen werden, schauspielert ein wenig, interessiert sich für die neuesten Entwicklungen der Industrie, will Bekannte und Freunde wiedersehen, will wichtig sein und wichtig genommen werden; mehr, als das im Klinikalltag geschieht.

 

Es gibt dennoch auch fachlich-sachliche Gründe: Die Persönlichkeiten kennenzulernen, die die eine oder andere Behandlungsart vertreten, die subjektiven Bewertungen diagnostischer und therapeutischer Möglichkeiten: Zuhörer sind weniger geduldig als Papier. Aber muss es diesen Rahmen haben?

 

Von unten formieren sich die Gruppen neu, weil sie merken, was ihnen im Großen fehlt: der ehrliche Austausch, die praktischen Fragen des Alltags betreffend, in denen man mit seinen Problemen ganz allein dasteht. Die Selbstherrlichkeit eines solchen Kongresses mit der damit verbundenen solidarischen Gewissheit, das Richtige zu tun, entbindet den Einzelnen von seinem Gewissen, da er sich einer Massenbewegung anschließt, die ein kollektives Gewissen hat – ein vorübergehender Trost: denn im Alltag reicht dann ein kollektives Gewissen nicht aus, der Einzelne ist eigenverantwortlich gefragt.

 

Dr. med. Stephan Heinrich Nolte

Arzt für Kinderheilkunde

Alter Kirchhainer Weg 5

35039 Marburg/Lahn